Die Pfleger
wissen, dass der Mann längst nicht mehr lebt und die Damen auch schon
vor Jahren aus der Wohnung ausgezogen ist. Dennoch gehen sie auf ihren
Wunsch ein und schicken sie zur Bus-Haltestelle vor das Seniorenheim. Doch
der Bus wird nie kommen. Denn die Haltestelle ist eine Attrappe. Immer
mehr Alten- und Pflegeheime in Deutschland sorgen mit solchen "Phantom-Haltestellen"
dafür, dass ihnen die Bewohner nicht abhandenkommen.
Fünf
Minuten wird die Dame auf der Bank an der Haltestelle sitzen, dann hat
sie vergessen, dass sie eigentlich nach Hause fahren wollte. "Eine Viertelstunde
später geht dann ein anderer Pfleger hin und sagt, dass der Bus ausfällt
oder dass die Tochter gleich zu Besuch kommt und die Dame doch schon mal
Kaffee aufsetzen soll", berichtet Heimleiter Richard Neureither. Er ist
auf Kritik vorbereitet: "Wenn die Angehörigen das hören, denken
sie erstmal: 'Die veräppeln die Leute doch!'" Doch die Demenzkranken
leben in ihrer eigenen Welt. "Mit rationalen Argumenten sind sie nicht
davon abzubringen wegzulaufen. Man muss sie in ihrer Realität da abholen,
wo sie sind."
82
Menschen leben in dem Seniorenzentrum im Düsseldorfer Süden.
Rund 70 von ihnen sind dement. Während lange zurückliegende Ereignisse
in Erinnerung bleiben, ist die Gegenwart für sie schnell vergessen.
"Die befinden sich dann schon im Endstadium der Krankheit. Das Kurzzeit-Gedächtnis
ist in der Regel komplett gelöscht", sagt Neureither: "Sie können
nichts mehr lernen. Wenn man nach 15 Minuten wieder ins Zimmer kommt, kann
man das Gespräch, das man eben noch geführt hat, wieder von vorne
anfangen." Das Langzeit-Gedächtnis funktioniere wesentlich besser.
"Die wissen noch genau, wo sie gewohnt haben; und auch an die Bedeutung
von Schlüsselsymbolen, wie eben an das grüne H der Bushaltestellen,
können sie sich genau erinnern", erklärt Neureither. |
Ein
Pionier der "Phantom-Haltestelle" ist der Vorsitzende des Düsseldorfer
Hilfsvereins "Alte Löwen", Franz-Josef Göbel: "Die Alternative
wäre ja, die Dementen wegzusperren oder mit Medikamenten ruhigzustellen",
verdeutlicht Göbel. Da die Bewohner freie Menschen sind, seien die
Pfleger jedoch gar nicht befugt, sie festzuhalten, betont Heimleiter Neureither:
"Außerdem werden die Demenzkranken natürlich aggressiv, wenn
wir versuchen sie aufzuhalten, und ihnen sagen, dass sie nicht gehen dürfen."
Die falsche Haltestelle sei eine Möglichkeit, die Gefühle der
Bewohner ernst zu nehmen. Sie können sich wie ganz normale Bürger
benehmen.
Der
Drang wegzugehen, ist vor allem bei den "neuen" Heimbewohnern stark ausgeprägt,
schildert der Experte. "Gerade in den ersten Tagen fragen sie sich: 'Was
soll ich denn hier?'", berichtet Neureither. "Und es treiben sie Sorgen
um wie: 'Wer soll das denn alles bezahlen?' Dann wollen sie unbedingt nach
Hause." Einmal im Monat müsse er trotz Phantom-Haltestelle die Polizei
alarmieren, weil die Demenzkranken einfach nicht mehr aufzufinden seien.
"Wenn jemand nicht gefunden wird, dann ist das wirklich dramatisch. Gerade
wenn er bei den niedrigen Temperaturen im Winter draußen übernachten
muss."
In
Deutschland sind mehr als eine Million Menschen an Demenz erkrankt, Tendenz
steigend. Die Idee mit den Haltestellen scheint sich derweil durchzusetzen:
Auch Heime in München, Remscheid, Wuppertal, Herten, Dortmund und
Hamburg setzen inzwischen auf Haltestellen, an denen höchstens zufällig
mal ein Bus stoppt.
dpa, 10. März
2008 |